Digitales Kolloquium zu Fratelli tutti – Die neue Sozialenzyklika von Papst Franziskus

Bericht

Am 30. November 2020 veranstaltete die Katholische Sozialwissenschaftliche Zentralstelle (KSZ) gemeinsam mit dem Dikasterium für die ganzheitliche Entwicklung des Menschen sowie weiteren Partnern ein digitales Kolloquium zur neuen Sozialenzyklika Fratelli tutti von Papst Franziskus (Veranstaltungsflyer zum Download).

Das bestimmende Thema der am 4. Oktober 2020 veröffentlichten Enzyklika ist eine „Spiritualität der Geschwisterlichkeit“. Die Diskussion dieses Begriffs und insbesondere der damit verbundenen Implikationen für das sozialethische und ökonomische Denken stellte den Schwerpunkt des Kolloquiums dar, das zwei Panels umfasste: Unter dem Titel „Weltweite Geschwisterlichkeit: Zur Theologie und Sozialethik von Fratelli tutti“ sprachen die Theologinnen Frau Prof.’ Ursula Nothelle-Wildfeuer (Freiburg/Br.) und Frau Prof.’ Marianne Heimbach-Steins (Münster). Im zweiten Panel „Papst Franziskus Vision einer Ethik der Globalisierung“ lieferten der Philosoph Prof. Claus Dierksmeier (Tübingen) und der Ökonom Prof. Nils Goldschmidt (Siegen) ihre Beiträge.

Die Veranstaltung wurde eröffnet vom Präfekten des besagten Dikasteriums, Peter Kardinal Turkson. Der Kardinal betonte in seinen Eröffnungsworten, dass in Papst Franziskus der „heilige Franz von Assisi wieder lebendig“ geworden sei. Die Geschwisterlichkeit der Menschen sei ein das Leben des heiligen Franz bestimmendes Thema gewesen. Da der Heilige mit Gott nur einen Herrn und mit seiner Seele nur einen einzigen Besitz gehabt habe, sei er ganz frei gewesen zusammen mit allen Menschen und der ganzen Schöpfung nur für das gemeinsame Lob Gottes zu leben. Diese Haltung der Geschwisterlichkeit setze Papst Franziskus in Bezug zu den drängenden Themen der Zeit.

Daran schloss der Bischof von Essen Dr. Franz-Josef Overbeck an, der u.a. Vorsitzender der Kommission der Deutschen Bischofskonferenz für gesellschaftliche und soziale Fragen ist. Er griff das von Papst Franziskus gebrauchte Bild auf, dass die Menschheit in einem gemeinsamen Boot sitze, was insbesondere die Corona-Pandemie gezeigt habe. Der Grundkonflikt unserer Tage, den Fratelli tutti beschreibe, sei dabei, dass einzelne Menschen und ganze Staaten sich immer wieder zwischen Angst, Abschottung und Eigeninteresse auf der einen und Mut, Zusammenarbeit, Gemeinschaftsinteresse auf der anderen Seite festlegen müssten. Dazwischen gebe es aber viele Graustufen.

Diesen Aspekt einer Vermittlung von Partikularismus und Universalismus vertiefte Ursula Nothelle-Wildfeuer in ihrem Vortrag „Liebe statt Gerechtigkeit? Papst Franziskus Konzept der Sozialverkündigung“. Geschwisterlichkeit sei dabei Papst Franziskus’ Übersetzung, des schon spätestens seit der Sozialenzyklika Quadragesimo Anno (1931) in der Sozialverkündigung der Kirche präsenten Begriffs der sozialen Liebe. Fratelli tutti sei als ein Plädoyer für eine Kultur zu verstehen, die nicht eine Einheitsgesellschaft favorisiere, sondern die tatsächliche Anerkennung des Individuellen, die sich auch auf struktureller Ebene niederschlagen müsse, um zwischen Partikularismus und Universalismus zu vermitteln.

Marianne Heimbach-Steins schloss daran in ihrem Referat „Interreligiöser Dialog und (christliche) Sozialethik“ an. Fratelli tutti sei ein Plädoyer für die Anerkennung von Pluralität und Diversität, was sich auch im Sprachstil der Enzyklika niederschlage: Die Enzyklika sei vielmehr eine Einladung zum Dialog und nicht Verkündigung einer feststehenden Position. Ihre Position sei es, dem anderen auf Augenhöhe zu begegnen und ihn anzuerkennen. Darin zeige sich eine erste Kontur eines weltumspannenden Ethos, das als interreligiös fundiert und dementsprechend dialogoffen aufgefasst werden könne.

Claus Dierksmeier griff diesen Gedanken in seinen Überlegungen unter dem Titel „Die Vision weltweiter Geschwisterlichkeit und das Konzept der Global Governance“ auf, in dem er von der allgemeinen Frage ausging, wie sich religiös oder spirituell motivierte moralische Standpunkte so formulieren ließen, dass sie auch interreligiös und für nichtreligiöse Menschen anschlussfähig wären. Er unterschied dazu zwei theoretische Argumentationslinien in Fratelli tutti: eine klassisch-naturrechtliche und eine personalistische. Gerade von der Letzteren aus ließe sich mit Fratelli tutti eine Grundlage dafür finden, Diversität viel stärker wertzuschätzen. Die andere menschliche Person werde innerhalb personalistischen Denkens so aufgefasst, dass Beziehungen zu ihr das je eigene menschliche Personsein vertieften. Am Beispiel der Überlegungen aus der Enzyklika zu einem Recht auf Migration zeigte er dann, wie sich aus einer personalistisch verstandenen politischen Liebe Argumente für eine Global Governance finden lassen könnten.

Nils Goldschmidt referierte zu „Der globale Markt – Wurzel allen Übels oder doch möglicher Teil einer Lösung?“. Er stellte dabei vor allen Dingen heraus, dass man Fratelli tutti nicht unbedingt einseitig als Kapitalismuskritik lesen müsse, sondern die Enzyklika vielmehr auch als ein Plädoyer für die Soziale Marktwirtschaft auffassen könne. Darüber hinaus biete die Enzyklika auch für Ökonomen wichtige Impulse, beispielsweise fordere sie plurale Ansätze zur Beschreibung der wirtschaftlichen Wirklichkeit.

Der Direktor der KSZ, Peter Schallenberg, schloss das Kolloquium und unterstrich dabei, dass Fratelli tutti mehr eine Vision als ein sozialethisches Lehrbuch sei. Er lud abschließend zu einer positiven Annahme des Dialogangebotes der Enzyklika und einer Weiterentwicklung der zahlreichen Impulse von Fratelli tutti ein.

Das Kolloquium wurde aufgezeichnet und kann in Kürze auf www.gruene-reihe.eu vollständig nachgeschaut werden.

Das digitale Kolloquium wurde veranstaltet in Kooperation mit:

Katholisch-Soziales Institut (KSI)

Kommende Dortmund

Katholische Akademie „Die Wolfsburg“

Ordo Socialis

Wir danken für die Unterstützung der Keppel Managementpartners GmbH, Frankfurt a.M.

Mag. theol. Stefan Gaßmann

Wissenschaftlicher Referent der KSZ