Peter Schallenberg | 6. Oktober 2020
Passant oder Samariter?
Anmerkungen zur neuen Enzyklika „Fratelli tutti“
Die neue Enzyklika „Fratelli tutti“ von Papst Franziskus macht es dem Leser nicht leicht. Trotzdem kann sie überraschen und ist eine Bereicherung. Sie ist ein geistlicher Text, eine Betrachtung. Im Zentrum stehen das christliche Menschenbild und seine sozial- und wirtschaftsethischen Konsequenzen. Ihr Schlüsselwort ist die „Spiritualität der Geschwisterlichkeit“. Mit der Tradition der katholischen Soziallehre geht es Papst Franziskus damit um eine Geisteshaltung, die Hand in Hand gehen muß mit einer „weltweit wirksameren Organisation zur Lösung der drängenden Probleme“ (Nr. 165) insbesondere für die Armen und Benachteiligten dieser Welt. Auch wenn nicht alles neu ist, erinnert und verdeutlicht der Text zur rechten Zeit, dass jeder Mensch nicht nur Individuum, sondern auch soziales Lebewesen ist, eine Person mit unverwechselbarem Angesicht und Charakter, angewiesen immer und ständig auf die anderen Personen und zugleich verantwortlich für sie. Der Mensch lebt auf dieser Erde in Personalität und Solidarität als Ebenbild Gottes, des dreifaltigen und somit in Beziehung der Liebe lebenden Gottes.
Zum Schlüsselwort der Geschwisterlichkeit und der gegenseitigen Fürsorge tritt ein Schlüsseltext, nämlich das neutestamentliche Gleichnis vom barmherzigen Samariter aus dem Lukasevangelium. Er zieht sich wie ein geheimer roter Faden durch die gesamte Enzyklika. Papst Franziskus interpretiert ihn in einer Linie mit den Kirchenvätern bis hin zu seinem Vorgänger im Amt, Benedikt XVI., im Lichte der bekannten Goldenen Regel: „Handle so, wie auch du behandelt werden möchtest!“ Für Papst Franziskus, der sich mit seiner Enzyklika keineswegs einfach nur an Katholiken oder Christen wendet, sondern an alle Menschen guten Willens, sind alle Menschen im geistigen Normalzustand in ihrem Gewissen auf das Gute und auf Solidarität hin ansprechbar. Zum weiteren Nachdenken lädt die Offenheit des Textes ein, ob eine universale Geschwisterlichkeit und Nächstenliebe letztlich auch ohne Gott und den Glauben an seine Liebe möglich sein kann. Sanft formuliert die Enzyklika: „Jeden Tag stehen wir vor der Wahl, barmherziger Samariter zu sein oder gleichgültiger Passant“ (Nr. 69).
Diesen beiden Schlüsseln zum Verständnis der Enzyklika entspricht der immer wieder im Text auftauchende und wechselnd benannte Gegner des christlichen Menschenbildes: Das „technokratische Paradigma“ (Nr. 165) soll vehement kritisiert werden, mithin ein individualistischer und liberalistischer Konsumismus und Materialismus. Das ist seit der ersten Sozialenzyklika „Rerum novarum“ von Papst Leo XIII. aus dem Jahr 1891 bis heute nicht neu und auch nicht mehr besonders originell, und muß doch immer wieder unterstrichen werden. Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, schon gar nicht vom selbstgenügsamen Konsum, sondern von der Erfahrung geschenkter und empfangener Liebe.
Staat und Wirtschaft können das nicht garantieren oder erzwingen, nur erhoffen. Genau deswegen braucht es das Christentum, die Kirche und Enzykliken wie diese.
Zuerst erschienen auf der Homepage des Erzbistums Paderborn